1. Als ich ein Kind von 3-4 Jahren war, verlor mich einmal meine Mutter (aus den Augen). Da man mich suchte, fand man mich auf dem sog. Schloßberge südlich vom Schulhause. Demnach scheint es, daß ich schon von Kindesbeinen an die Neigung zum Bergsteigen verriet, welche mir lebenslänglich verblieben ist. Auf Bergen (Rigi, Pilatus, Mythen, Säntis...) fühlte ich mich noch immer ungemein wohl und heiter — gleichsam dem Himmel näher. Überhaupt sollten alle Menschen, besonders sog. Stubenhocker, alle Jahre Berge besteigen. Für Unterleibsleidende, Lungenkranke, Mißgestimmte... wäre dieses die beste Medizin.
2. In unser Pfarrdorf Lauda kam einmal ein neuer Kaplan namens Hehn. Derselbe war ein schlechter Sänger; aber ein guter Kinderfreund, der sich viel mit mir als 4-5jährigem Knäblein zu schaffen machte. Einmal Sonntags hatte er wieder einmal herzlich schlecht im Amte gesungen. Beim Mittagessen bemerkte meine Mutter: „Unser neuer Herr Kaplan singt doch auch wahrhaft wie ein Krabb (Rabe)."
Diese Vergleichung merkte ich mir buchstäblich.
Trotz seiner schlechten Stimmbegabung wollte unser neuer Kaplan doch ein vortrefflicher Sänger sein. In seiner Sangeseitelkeit fragte er mich eines Tages, da wir allein im Zimmer des Schulhauses waren: „Ei, Kleiner! sag mir doch. wie behaupten deine Eltern daß ich singen könne?!“ —
„Sie sagen“, entgegnete ich rasch und kurzgepackt, „Du könnest singen, wie ein Krabb.“ — Diese wahrheitsgetreue Mitteilung brachte unsern Herrn Kaplan so in Harnisch, daß er fast nie mehr unser Familienzimmer betrat. Diese Wahrnehmung fiel meinen Eltern auf; weshalb sie sich befragten, warum wohl Herr Kaplan so seltsam sich benehme. „Hat denn jemand etwas Beleidigendes über ihn gesagt? vielleicht einer von unsern zwei Buben?“ — „Ja, gestand ich sofort wahrheitsliebend, wie immer, ich habe zu ihm gesagt: „Du singst, wie ein Krabb.“ — An einer gründlichen Züchtigung für meine unüberlegte kindliche Offenherzigkeit ließen es meine Eltern sofort durchaus nicht fehlen. Mich aber schmerzte es in tiefster Seele, eine Wahrheit gesagt zu haben, und doch dafür gestraft zu werden, was mir im späteren und spätesten Leben noch einigemal begegnete, so daß dieses Jugendereignis wie ein Vorspiel von traurigen Erlebnissen im Mannesalter vorkommt. Dafür aber, daß unschuldige Kinder die wenn auch noch so unliebsame Wahrheit sagen, sollten Eltern und Erzieher dieselben nie und nimmer bestrafen, weil eine solche den Kindern geradezu unbegreifliche Strafe den geraden, aufrichtigen Kindersinn ungemein empört und verdirbt. —
Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, nahm mich meine liebe Mutter einmal in das 8 - 9 Stunden von Oberlauda entfernte Würzburg zu Fuß mit. Mit 11 Jahren bekam ich nämlich einmal wieder die Lungenentzündung. Meine Mutter gelobte, wenn ich gesund würde, eine Mutter-Gottes-Wallfart nach Maria Dettelbach. Diese wollte sie mit mir gelübdegemäß ausführen. Damals waren gerade noch die sog. Fräcke sehr im Schwange. Meine Eltern schafften mir einen grünen an, und heute noch kann ich mich des Lachens kaum erwehren, wenn ich daran denke, wie ich grünbefräckt über das Würzburger Pflaster dahinstolperte. Die Zeiten ändern sich und damit die Moden, gottlob — . Meine liebe Mutter langte glücklich mit ihrem jungen Pilger in der alten Bischofsstadt Würzburg an. Das war für mich ein großartiges Ereignis, eine herrliche Schau: Main, Brücke, Statuen, Festung, Dom, Spital, ein Wald von Türmen und Masten... welcher Stoff für jugendliches Sinnen und Fantasieren!
Auf dem Würzburger Markte kaufte und feilschte meine Mutter. Das langweilte mich. Deshalb schloß ich mich an bekannte Männer an, und ließ meine Mutter treulos im Stiche. Die Männer gingen mit mir in das reiche, großartige Juliusspital, wo gerade Gottesdienst in der Spitalkirche stattfand. Da gefiel es mir. Ich blieb, so lange ich konnte; denn Spital, Kirche und Garten gaben meinem Geiste viel zu denken.
Endlich verloren mich auch die Männer aus den Augen. Der Abend kam, und ich stand einsam und verlassen in der für mich so großen Stadt Würzburg. Was anfangen? Schon drückte mich das Gewissen, meine liebe Mutter in Angst und Sorgen meinethalben gebracht zu haben. Da kam mir der gleiche Gedanke wie meiner Mutter, nämlich auf der Mainbrücke uns zu finden. „Durch diese hohle Gasse muß er kommen", dachte meine Mutter; und „über die Mainbrücke muß meine Mutter heimkehren", so kalkulierte ich. Und richtig: als ich an die Brücke in der Abenddämmerung kam, saß meine liebe Mutter längst gleich am ersten Pfeiler unter dem riesigen Steinkolosse Gustav Adolfs, und musterte jeden Vorübergehenden, bis sie meinen kleinen grünen Frack nahen sah, der ihrem Liebling hoffnungsgrün, wiewohl spärlich umhüllte. Schon stundenlang saß sie da mit den Gefühlen Mariens in Jerusalem, da sie ihren göttlichen Zwölfjährigen verloren hatte. Vor Freude, mich am rechten Platze ihres Hoffens und Harrens gefunden zu haben, machte sie mir gar keine Vorwürfe, sondern fragte mich bloß, wo ich meine Zeit zugebracht habe. Als ich sie versicherte: „In Kirchen und Spitälern“, da ahnte sie meinen künftigen Beruf und gab sich zufrieden, worauf wir gelegentlich zu Wagen die Nacht über heimkehrten. Ach, welch verschiedenartige Gefühle nicht so ein armes Mutterherz bestürmen! Wahrlich, Mutter heist Martyrin sein. —
Eine eigentümliche Szene aus meinem Knabenleben hat mich im Gottvertrauen und Gebeteseifer sehr bestärkt, und vielleicht mit den Grund dazu gelegt, mich dem geistlichen Stande zu widmen.
Ich aß als Knabe die Kirschen sehr gerne. Dieses wußte ein Mitschüler und lud mich zu einem früchtebeladenen Kirschbaum am Saume unseres Gemeindewaldes ein. Die Waldkirschen mundeten mir sehr trefflich. Bis zum Gipfel des Lieblingsbaumes kletterte ich lebhaft hinan.
„Hier unten sind bessere!“ rief mein Kamerad, der nicht so hoch emporgeklettert war. Rasch folgte ich seinem Rufe, und rutschte am Baume herab, blieb aber an einem spitzen Knorren des Baumes mit meiner Hose seitwärts hängen, so daß ich im schnellen Herunterrutschen am Baume mein Beinkleid der ganzen Länge nach zerriß.
Hierauf war mir alle fernere Lust am Kirschenverspeisen benommen. Traurig ging ich in den nahen Wald, und suchte mir langes dünnes Waldgras und scharfe Dörner, um die Trümmer meiner Hose notdürftig und anstandsgemäß zusammenzuheften. Hierauf trat ich beklommenen Herzens für mich allein den Rückweg an, düstergestimmt an die Schläge denkend, die zuhause meiner harrten, da meine häuslichen Eltern in solchen Dingen gar nicht mit sich spaßen ließen.
„Was nun anfangen?“, dachte ich unterwegs, den Hagwaldberg herab; „was machen, um daheim den Hieben zu entrinnen?“ —
Mein guter Genius gab mit ein, recht herzlich zu beten, und ich sprach bei mir aus Herzensgrund: „O lieber Gott! laß doch zuhause einen guten Gast, etwa einen Gemeinderechner sein, der meinem Vater eine Rechnung zu stellen bringt (denn mein Vater stellte damals sehr viele Kirchen-, Gemeinde-, und Pflegschafts- und andere Rechnungen), damit die Aufmerksamkeit meiner Eltern von mir abgelenkt ist und ich keine Schläge erhalte, wenn ich heimkomme!“ —
So betete ich, und dachte bei mir selber tiefbetrübten, doch vertrauensvollen Herzens: wird mein Gebet wirklich erhört, so will ich lebenslänglich fest an Gott und die Macht des Gebetes glauben. — Und wahrhaft! als ich nach Hause kam, saß in der Tat der Gemeinderechner eines benachbarten Dorfes (wenn ich mich recht entsinne, von Dittwar) am Tische unsers Wohnzimmers, vor sich Wein und Brod, und alles im Hause guter Dinge. Ich schlich mich unvermerkt in die Kammer des Wohnzimmers, suchte dort meine Sonntagshose aus dem Kasten hervor, zog sie an, riß die alte, verunglückte Kirschbaumhose vollends in Fetzen und warf die Stücke derselben unter andere alte Kleiderreste, womit ich sie gleichsam für verschollen erklären wollte. Hierauf ordnete ich meine Haare u.s.w., und präsentierte mich der wirklich wie von Gott erbetenen lieben Zimmergesellschaft. „Da kommt einer von unseren Wildfängen!“ rief meine Mutter, auf mich hinweisend, dem Gaste zu, den ich auf das höflichste begrüßte.
Stolz auf mich, wie immer, gab mir meine liebe Mutter statt Schlägen, Brod und Wein. Ich aber dachte, innerlich Gott dankend: „Ist es denn möglich gewesen, so buchstäblich erhört zu werden — ich, ein Wildfang! wie meine Mutter soeben mich betitelte!“ — Von jenem Tage an war mein unbedingtes Gottvertrauen für immer bekräftigt und besiegelt. Kein Unterricht u.s.w. hätte das mehr vermocht, als dieses für mich so merkwürdgie Erlebnis. Als meine Mutter später nach der verschollenen Werktagshose fragte, sagte ich ruhig: „O die ist ja schon lange unte den alten Fetzen der Kammertruhe!“ Und so war es ja wirklich, und somit war die für mich so heikle Sche für immer abgetan. Später, nach vielen Jahren, machte es mir immer großen Spaß, meiner hochbetagten lieben Mutter dieses Jugenderlebnis zu erzählen, worüber sie selber dann herzlich lachte und meinte, diesen
„klugen Kopf!“ hätte ich eben von ihr geerbt. —